Bettina Storks über ihren Roman "Leas Spuren"

 

 

 

 

 

"Die Familie ist die Keimzelle einer Gesellschaft. Hier fängt alles an. Wenn man Konflikte sucht, muss man in die Familien und hinter die Fassaden schauen." 

 

 

Liebe Frau Storks, in Ihrem Roman gibt es mehr als ein Geheimnis. Gehören Geheimnisse für Sie zu einer guten Geschichte?

Ja, unbedingt gehören Geheimnisse dazu! Ich „ent-wickle“ ein solches Geheimnis von der Lösung bis zur Ausgangssituation zurück, bis zur Fragestellung. In Leas Spuren geht es um ein lang verschwiegenes Familiengeheimnis, das bis heute nachwirkt und das meine Protagonistin Marie lüftet.

 

Wer ist Lea?

Lea ist das Mädchen auf jenem Gemälde, das die beiden Protagonisten Marie und Nicolas suchen sollen. Sie wissen nichts über sie, außer dass Leas verstorbener Vater, ein Pariser Künstler, sie einst gemalt hat – auf einem Schaukelpferd im Jardin du Luxembourg. Und dass Lea, falls sie noch lebt, inzwischen Mitte achtzig ist. Da Lea jüdische Wurzeln hat, ist diese Suche sehr kompliziert und mit nicht ganz ungefährlichen Hürden verbunden, die die beiden gemeinsam überwinden müssen. Der Widerstand ihrer Familien macht die Angelegenheit nicht leichter. Marie und Nicolas müssen Profil zeigen und ihrem eigenen moralischen Kompass folgen. Nur diese Verbindung bringt am Ende den erhofften Erfolg.  

 

Immer wieder erweist sich die Familie als Dreh- und Angelpunkt Ihres Schreibens. Welche Bedeutung hat sie Ihrer Meinung nach für unsere Identität?

Nun, die Familie ist die Keimzelle einer Gesellschaft. Hier fängt alles an. Wenn man Konflikte sucht (und davon leben gute Romanstoffe), muss man in die Familien und hinter die Fassaden schauen. Marie hat einen sehr klaren Blick dafür, genau wie Nicolas. Ihre gemeinsamen Überzeugungen lassen die beiden enger zusammenrücken und gegen den Widerstand ihrer Familien handeln. Am Ende profitieren alle Beteiligten von dem, was Marie und Nicolas herausfinden. Sie setzen viel in Bewegung.    

 

 

Welche Rolle spielt die Liebe in diesem Roman?

Die Liebe ist der Funke, der das Geschehen der Gegenwarts- und Vergangenheitsschiene entzündet und meine Helden zu denen werden lässt, die sie sind. Sie müssen nur die richtigen Anlagen mitbringen. Aus jenem Funken wurde im Laufe des Schreibprozesses ein Feuer, was mich selbst überraschte. Aber nur mit dieser Kraft können die Helden über sich hinauswachsen. Eine Liebesbeziehung zwischen einer Deutschen und einem Franzosen im besetzten Paris entwickelt eine sehr eigenwillige Dynamik und Spannung.  

 

 

Sie schreiben über Paris während der deutschen Besatzung in den 1940er-Jahren. Wie war die Atmosphäre in Paris zu jener Zeit?

Wenn man sich Fotos aus dieser Zeit ansieht, dann scheint die Besatzung zunächst relativ unspektakulär vonstatten gegangen zu sein, denn Paris war während der Besatzungszeit eine Art Ausnahmestadt. Doch die Höflichkeit der Besatzer war aufgesetzt und nicht von großer Dauer. Die Weisung von „oben“ lautete, die Pariser Bevölkerung nicht gegen sich aufzubringen. Selbstverständlich galt das nicht für die jüdischen Einwohner von Paris. Es muss sich für die Pariser wie auf einem Pulverfass angefühlt haben, und so verwundert es nicht, dass sich konspirativ nach und nach der Widerstand in der französischen Metropole formierte. Die Stimmung kippte spätestens dann, nachdem die Deutschen bei der großen Pariser „Juden-Razzia“ im Juli 1942 ihr wahres Gesicht zeigten. Dieses dramatische Ereignis wird im Roman in einer Rückblende aufgegriffen.   

 

Wenn man einen Roman schreibt, der in der Zeit des Nationalsozialismus spielt, stellt sich unweigerlich auch die Frage nach der Verantwortung der heutigen Generation. Wie gehen Sie damit in Ihrem Roman um?

Lassen Sie mich mit den Worten meines Protagonisten aus der Stuttgarter Nachkriegs-Stadtgeschichte Sigmund Hetzel antworten, dessen jüdische Partnerin von den Nazis in Theresienstadt ermordet wurde: „Das deutsche Volk hat Schuld auf sich geladen. Beim Zusehen. Beim Wegsehen. Beim Mitmachen. Wir können die Trümmer in unseren Städten zuschütten. Einen riesigen Berg aus ihnen machen und Gras drüber wachsen lassen. Mit Theresienstadt und Auschwitz und dem Gas und den Gräueltaten geht das nicht. Da wächst nie und nimmer Gras drüber.“ Mich persönlich treibt die Frage nach Verantwortung der nachfolgenden Generationen schon immer um.

 

Neben Paris ist auch Stuttgart ein wichtiger Schauplatz Ihres Romans. Was verbindet Sie mit dieser Stadt?

Stuttgart ist die Stadt, in der ich aufgewachsen bin. Hier sind meine Wurzeln. Im Lehenviertel im Süden der Stadt kenne ich jede Straße, jede Gasse und rund um den Marienplatz (wo meine Protagonistin in unmittelbarer Nähe lebt) jeden Hinterhof. Der Süden Stuttgarts blieb von den verheerenden Zerstörungen während des Zweiten Weltkriegs weitgehend verschont – ein Glücksfall für das Setting, denn meine Protagonisten laufen in den späten 40er-Jahren durch die Straßen mit genau den Gebäuden, die ich kenne! In der Zimmermannstraße und sogar exakt in dem Jugendstil-Haus, in dem die Großmutter meiner Protagonistin lebt, habe ich übrigens mehrere Jahre gewohnt. 

 

Was fasziniert Sie am Thema Kunstraub?

Das Thema nahm mich im Laufe der Recherche gefangen, und ich bin verblüfft, wie viel diesbezüglich immer noch im Dunkeln liegt. Weltweit kursieren wohl noch unzählige von den Nazis gestohlene Kunstwerke, viele von ihnen hängen unbemerkt auf Dachböden oder in Privathaushalten. In großem Stil rücken Museen Kunstwerke nicht heraus, weil durch die verstrichene Zeit und viele Besitzerwechsel die eindeutige Herkunft nicht mehr rekonstruiert werden kann. Das ist für eine Romanhandlung eine Steilvorlage, an der ich als Schriftstellerin einfach nicht vorbei kam – allein über die Kunstraub-Thematik könnte ich mindestens zwei weitere Romane schreiben, so viele spannende Geschichten sind mir bei der Recherche begegnet. In Leas Spuren zeige ich dem Leser exemplarisch die Selbstbedienungsmentalität der Nazis im besetzten Paris auf: Wie ging der systematische Kunstraub vonstatten und welche Auswirkungen hat der Nazi-Kunstraub bis in die heutige Zeit? 

 

 

Wie viel Fakt steckt in diesem Roman, wie viel Fiktion? Gibt es historische Figuren in Ihrem Roman?

Die Geschichte ist frei erfunden. Einzelheiten um Personen sind jedoch historisch korrekt, wie um die Résistancekämpferin Rose Valland, die tatsächlich im Jeu de Paume Papierschnipsel gesammelt hat und sie später den Alliierten übergab. Im Privathaus in Baden-Baden des Deutschen Botschafters von Paris, Otto Abetz, fand man 1945 unzählige gestohlene Kunstwerke. In Stuttgart gab es tatsächlich einen Antiquitätenhändler namens Sigmund Hetzel, der mit seiner jüdischen Lebenspartnerin Selma Ruben am Charlottenplatz zusammenlebte. Die Eckdaten ihrer Biografien stimmen. Auch die tragischen Ereignisse um die Rue Saint-Maur in Paris sind real.  

 

Welcher Handlungsstrang war die größere Herausforderung für Sie – die Gegenwart oder die Vergangenheit?

Eigentlich dachte ich anfangs, es sei die Vergangenheitsschiene mit Victor und Charlotte, aber die größte Herausforderung waren nicht die Figuren, sondern das Verweben von realen Ereignissen und Fiktion. Was mit den Figuren während der Handlung geschieht, ist schlichtweg folgerichtig. Genau wie ihre Gedanken, ihre Zweifel, ihre Erkenntnisse. Sorgfältig ausgearbeitete Figuren danken es ihrer Schöpferin, indem sie ein Eigenleben entwickeln und ihr Handeln schlüssig wird. Das Ineinanderfügen von realen Begebenheiten und Fiktion hingegen, war eine emotionale Herausforderung für mich. Damit meine ich konkret (ohne zu viel zu verraten) die ergreifenden Ereignisse um einen Gebäudekomplex in Paris. Sie haben mich sehr bewegt.   

 

Was sollen Ihre Leserinnen und Leser aus der Lektüre dieses Romans mitnehmen?

Ich wünsche mir, dass sie Einblicke in das Paris während der Besatzung, in die historischen Begebenheiten, aber auch in die Entwicklung der Protagonisten erhalten. Die Geschichte und ihre Figuren sollen nachwirken. Am Ende des Tages soll Lesen ein Genuss sein und ein emotionales Abenteuer.

 

Ihre Lieblingslektüren?

Oh, da gibt es einige. Hier die wichtigsten: 

 

Zaruya Shalev: Späte Familie

Zaruya Shalev, Schmerz 

Antony Doerr: Alles Licht, das wir nicht sehen

Irvin Yalom: Und Nietzsche weinte 

Jorge Semprun: Die große Reise

Sandor Marai: Die Glut